Versprechen müssen eingehalten werden!

Sadeh, Prinzessin der Wüste ist bei Amazon erhältlich

Der ägyptische Kalender

Das altägyptische Jahr besaß bereits 365 Tage. Es wurde in drei Jahreszeiten unterteilt, die wiederum in vier Monate zu je 30 Tagen eingeteilt wurden. Die überzähligen Jahrestage wurden als Zusatztage an die letzte Jahreszeit angehängt und je einem Gott als Geburtstag zugeordnet. (Wikipedia)

Ich habe mich am reformierten Kalender ab der 19. Dynastie (Bürgerliche Mondkalender) orientiert.

Jahreszeit Achet (Überschwemmung)

Monat 1: Djehuti/Thot (Juni/Juli)

Monat 2: Pa-en-Ipet (Juli/August)

Monat 3: Huthor/Hathor (August/September)

Monat 4: Ka-her-ka (September/Oktober)

Jahreszeit Peret (Aussaat/Winter)

Monat 1: Taabet (Oktober/November)

Monat 2: Mecher (November/Dezember)

Monat 3: Pa-en-Amenhotep (Dezember/Januar)

Monat 4: Pa-en-Renenutet (Januar/Februar)

Jahreszeit Schemu (Ernte/Sommer)

Monat 1: Pa-en-Chonsu (Februar/März)

Monat 2: Pa-en-inet (März/April)

Monat 3: Ipip (April/Mai)

Monat 4: Mesut-Re (Mai/Juni)

Prolog

Sais, Thot, 1. Achet, der Zeit der Überschwemmung, im Morgengrauen

Die Schreie der Klageweiber hallten in der Morgendämmerung durch die Straßen der Stadt, als würde eine Meute Hunde hinter einer Katze herjagen. Ihr Heulen warnte alle, sich von der nachfolgenden Pro­zession abzuwenden. Die Dämonen, die der Geist der Ver­storbenen anlockte, konnten auch den Lebenden Schaden zufügen.

Der Trauerzug war einer der Kürzesten, die jemals den Palast verlassen hatten. Lediglich sechs Klageweiber stol­perten dem Sarkophag voran, zerrten an ihren langen, schwarzen Haaren und jammerten, als wären es ihre eigene Hinrichtung. Hinter ihnen schritt der oberste Tempelpriester der Stadtgöttin Neith, mit Leopardenfell und wadenlangem, weißem Schurz bekleidet. Nach ihm kam der flache Karren, auf dem der vergoldete und in golddurch­wirkte Tücher gehüllte Sarkophag stand. Der Wagen wurde von einem weißen Esel gezogen, den ein ebenfalls weißgekleideter, verschleierter Tempeldiener führte. Die vier Soldaten neben dem Wagen schwangen ihre langen Speere in Richtung der Passanten und zwangen manch einen dazu, sich eng an die Hauswand zu drücken, damit dem kostbaren Sarg niemand zu nahekam. Zuletzt folgten zwei Kinder, ein großes, schlankes Mädchen und ein kleiner, wohlgenährter Junge. Beide trugen schmucklose, weiße Leinentuniken und hatten ihre Köpfe, zum Schutz gegen die Dämonen, mit einem weißen Gaze-Schleier verhüllt, der ihnen bis zu den Ellenbogen reichte. Sie hielten ihre Köpfe gesenkt und schauten auf das staubige Pflaster der Straße, die zur großen Tempelanlage führte. Dort wurden alle Könige seit Psammetich dem Ersten und deren Familien in großen Mausoleen bestattet.

Die Tempelanlage war riesig. Neben Neith, der Schutzgöttin der Stadt, gab es auch Tempel für Mut, Osiris, Re, Atum und weitere Gottheiten. Die Mausoleen der vier verstorbenen Könige lagen direkt neben dem Tempel der Göttin Neith. Ahmose der Zweite, der amtierende Pharao, hatte für sich bereits ein eigenes Mausoleum errichten lassen. Dort, in einem der Nebenräume würde die Tote auf ihren Eintritt in die Gefilde der Binsen, die Götterwelt, warten.

„Es ist eine Ehre für Mutter, dass sie im Mausoleum des Kö­nigs aufgenommen wird“, flüsterte Sadeh unter ihrem dün­nen Schleier. „Es ist eine Ehre für Mutter, dass sie im Mau­soleum des Königs aufgenommen wird. Es ist eine Ehre …“

Aber auch die hundertste Wiederholung ihrer Worte konnte den wütenden Schmerz in ihrem Herzen nicht lindern. Lediglich der Strom ihrer Tränen war in den vergangenen Wochen, in denen Marahs Körper für die Ewigkeit vorbereitet worden war, versiegt. Heute jedoch drohte er mit jedem Schritt, mit dem sie sich der Begräbnisstätte näherten, wieder auszubrechen. Ihre ineinander verflochten Finger schmerzten bereits vom stetigen Druck, den sie nicht lösen konnte.

Du solltest dich um Amires kümmern, schoss es ihr durch den Sinn. Er braucht deinen Trost.

Aber ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Nicht ein einziges Mal hatte sie es heute geschafft, Amires in ihre Arme zu schließen, ihm über den Kopf zu streichen und ihm zu versichern, dass alles gut würde.

Nichts ist gut!, schrie ihr Herz.

Ihr gesamtes bisheriges Leben war aus den Fugen geraten und wie ein schlecht gebauter Tempel in sich zusammen–gebrochen. Niemand würde ihn jemals wieder aufrichten können, niemand würde ihr helfen. Dabei brauchte sie Hilfe. Dringend! Für sich und für ihren Bruder.

Sein Leben ist in Gefahr! Das waren Mutters letzte Worte. – Du musst ihn aus Ägypten fortbringen.

Sie hatte es versprochen, in ihrer Verzweiflung. Sie hätte ihr alles versprochen, wenn sie nur wieder gesund geworden wäre. Aber sie war gestorben, vergiftet, wie sie inzwischen wusste. Und das bedeutete, dass Marahs Befürchtungen bezüglich ihres Bruders wahr werden könnten.

Warum bist du gegangen und hast mich alleine zurück–gelassen?, klagte ihr Herz in Richtung des Sarkophags. Wie soll ich denn Amires retten, wenn ich noch nicht einmal weiß, wie die Welt außerhalb der Palastmauern aussieht? Warum hast du mich nicht einmal mitgenommen, wenn du den Palast verlassen hast? Siehst du denn nicht, dass ich das alleine nicht schaffen kann?

Das Gefühl der Ohnmacht und der Schwäche übermannte sie erneut. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie kratzten in ihrem Hals, stiegen auf bis in ihre Augen und flossen wie ein Wasserfall über ihre Wangen. Im Geschrei der Klageweiber ging ihr Schluchzen unter. Ihre Hand fand den Arm ihres Bruders und ergriff seine Hand. Fest legte sie ihre Finger um seine. Sie hatte ihrer Mutter ein Versprechen gegeben!

Was wäre ich für eine Tochter, wenn ich mein Versprechen brechen würde? Mutter hat sich niemals aufgegeben! Dann sollte ich das auch nicht tun.

Sie atmete viermal tief ein und aus und spürte, wie der Druck auf ihrer Brust nachließ. Ihr Herz füllte sich mit Trotz. Trotz, der ihre Angst besiegte. Trotz, der ihren Körper erwärmte. Trotz, der einen guten Anteil Zorn enthielt und ihr die Kraft verlieh, einen Weg zu suchen, um ihr Versprechen einzu­halten.

Eins

Sais, Palast der Königin Tentcheta, Ende des Monats Hathor, 3. Achet, der Zeit der Überschwemmung, vierte Stunde der Nacht

Sadeh hob ihren Kopf von ihrer Nackenrolle und ließ ihre Augen durch den Raum schweifen. Um sie herum standen elf Betten. In ihnen schliefen die Mädchen, die genau wie sie niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Ihre Eltern waren entweder gestorben, oder sie mussten als Unterpfand für die Friedfertigkeit ihrer Väter hier im Palast leben. Die Kinder waren alle gleichgestellt, ob Prinzessin oder Tochter einer Dienerin, das war der Aufseherin gleich. Jede musste für ihre Kleidung und Verpflegung arbeiten. Sadeh trug immer noch die grobe Tunika einer einfachen Dienerin. Sie hatte sie am Vormittag angezogen, als sie sich freiwillig für die Reinigung der Kleidung gemeldet hatte, und sie bisher nicht gewechselt. Sie kratzte und war bereits mehrfach geflickt, für ihre Flucht aber genau das Richtige. Ihr gutes Kleid lag inzwischen zusammen mit einem sauberen Schurz für Amires in ein graues Tuch gehüllt unter der alten Stech­palme, die neben dem kleinen Tor wuchs, durch das die Diener, Sklaven und Händler den Palast der Königin betreten und verlassen durften.

Auf diese Nacht hatte Sadeh schon lange gewartet und hart dafür gearbeitet: Sie hatte sich mit dem Wächter des Nebentors angefreundet, hatte jede Arbeit im Mädchenhaus klaglos verrichtet und so das Vertrauen der Aufseherin gewonnen. Da sie lesen, schreiben und rechnen konnte, durfte sie seit zwei Wochen in die Unterstadt gehen, um für die Aufseherin einige Besorgungen zu machen. Das war ein weiterer, ungeahnter Vorteil. Ihre Mutter hatte für ihre Flucht beim Silberschmied Ares eine Schmuckschatulle hin­terlegt, die er nur derjenigen aushändigen durfte, die ihren Siegelring trug. Diesen Ring hatte Sadeh bisher verstecken können. Er war der Granat für ihr Überleben.

Heute schien endlich die Mondsichel so hell, dass sie auch in der Dunkelheit ihre Umgebung leidlich erkennen konnte. Streifen des Mondlichts drangen bereits durch die Spalten der hölzernen Fensterläden, und erhellten die Wege zwischen den Betten.

Das Mondlicht schickte Gott Chons auf die Erde, wusste sie, der Umarmer. Er beschützte alle, die seines Schutzes bedurf­ten. Das hatte er seiner Mutter Mut und seinem Vater Amun versprochen. Insbesondere die Reisenden, die in der Dun­kelheit unterwegs sein mussten, konnten auf ihn vertrauen. Ich danke dir, gütiger Gott, für das Mondlicht. Bitte be­schütze Amires und mich in dieser Nacht, betete Sadeh still. Dabei lauschte sie auf jedes Geräusch. Es hatte heute länger gedauert, bis alle Mädchen eingeschlafen waren. Immer wieder hatten sie geflüstert, gekichert und geseufzt. Doch nun war es seit längerer Zeit still. Ob sie es wagen konnte, sich zu erheben? Sie musste zu Amires, um mit ihm den Palast so rasch wie möglich zu verlassen.

Vorsichtig setzte sie sich auf, schlug ihre Leinendecke zurück, schwang ihre Beine über das leise knarrende Bett­gestell und blieb steif sitzen. Ist jemand erwacht? Ange­strengt lauschte sie in den Raum und drehte ihren Kopf. Aber alles blieb still. Langsam rutschte sie vom Bettgestell und schlüpfte in ihre ledernen Sandalen. Die grobe Tunika kratzte über ihre Haut. Gut, dass ich mein feines Leinenkleid eingepackt habe. Sobald wir die Unterstadt erreicht haben, ziehe ich mich erst einmal um.

Sadeh schlich auf den dünnen Vorhang zu, der den Vorraum mit der Haustür vom Schlafsaal trennte und schob ihn zur Seite. Soll ich die Tür schnell öffnen und schnell hinaus­schlüpfen oder ist es langsamer besser?, überlegte sie, als sie vor der Holztür stand. Egal, sie knarrt sowieso.

Rasch legte sie ihre Hand auf den Griff, zog die Tür mit einem Ruck auf, sprang hindurch und schloss sie wieder. Kurz spähte sie in beide Richtungen und eilte über den ge­pflasterten Weg in den Schatten einer hoch­gewachsenen Zeder.

Geschafft!

Die Luft hatte sich merklich abgekühlt. Es war aber immer noch angenehm warm. Der Mond stand als gleißende Sichel am Himmel, erhellte aber nur einen kleinen Teil der Wege. Große Bereiche lagen im khol-dunklen Schatten verborgen.

Das ist ideal für unsere Flucht. Ich werde Gott Chons ein Dankopfer darbringen, wenn wir die Unterstadt erreicht haben.

Während sie sich nochmals umsah, durchdrang der herbsüße Duft der Zeder, vermischt mit dem von Zitrusblüten und unzähligen Rosen die Nachtluft. Sie liebte diese Duftmi­schung. Tief atmete sie ein. Aber sie musste weiter, musste sich beeilen. Leicht gebeugt schlich sie auf das Schlafhaus der Knaben zu.

Sie näherte sich gerade einem großen, dunklen Schatten­flecken, der bis zur Eingangstür reichte, als sich vor ihr etwas regte. Erschrocken blieb sie stehen.

„Da bist du ja endlich“, raunte im selben Augenblick die Stimme ihres Bruders, während er aus dem Schatten trat. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“

„Bei Neith“, zischte sie erbost. „Wie kannst du mich so erschrecken!“

„Aber du hast doch gesagt, ich soll hier draußen auf dich warten.“

„Ja, schon.“

„Und du hast gesagt, dass ich aufpassen soll, dass mich niemand sieht.“

„Ja, ja. Nun komm. Wir müssen los“, flüsterte sie, schaute sich schnell noch einmal um, und griff nach seiner Hand. „Bleib neben mir im Schatten!“, kommandierte sie und setzte sich in Bewegung.

„Das weiß ich doch“, brummte Amires verstimmt. „Ich werde schließlich bald sieben Sommer alt!“

Beide eilten über die hellen Kieswege auf die hohe Außenmauer zu, die die gesamte Palastanlage umgab.

Als sie sich dem Tor mit dem kleinen Wachhaus näherten, schaute Amires Sadeh skeptisch an.

„Was ist mit dem Torwärter?“, flüsterte er. „Wird er uns passieren lassen?“

„Ich habe ihm zwei Krüge mit Bier gebracht, in die ich etwas Mohnpulver hineingestreut habe.“

„Und woher hast du den Mohn?“

„Unsere Aufseherin ist in der vergangenen Woche gestürzt und hat mich zu einem Heiler in die Unterstadt geschickt, um ihr ein Schmerzmittel zu holen. Der Heiler gab mir einen Beutel mit Mohnsamen. Er meinte, sie solle achtgeben. Von zu viel Mohn wird man schläfrig. Also habe ich einige Ro abgezweigt und in das Bier für den Wächter gestreut. Ich hoffe, dass es wirkt. Sonst müssen wir ihn anders ablenken.“

Einige Herzschläge später hatten sie den Durchgang der Außenmauer erreicht und drückten sich rücklings in den Schatten neben der Tür. Aus der strohgedeckten Hütte drang lautes Schnarchen. Offenbar hatte das Bier ihre Erwartung erfüllt. Sadeh lauschte gebannt, ob sie ein anderes, verdächtiges Geräusch bemerkte. Aber die Nacht blieb ruhig.

„Behalt du den Weg im Auge“, wisperte sie. „Wenn wir auffallen, wird uns die Königin mit Sicherheit bestrafen. Und ich möchte nicht wissen, was sie dann mit uns macht. Ich hole die Kleidung und das Öl. Wir müssen zusehen, dass wir so schnell wie möglich die Unterstadt erreichen.“

Schnell drückte sie sich rückwärts zwischen die dichten, stacheligen Blätter, bückte sich und griff das Bündel mit ihrer Ersatzkleidung. Mit der anderen Hand angelte sie nach einem Krug mit Öl. Das Kleiderbündel ließ sie neben Amires zu Boden fallen. Anschließend entfernte sie das Wachstuch vom Krug.

„Wozu brauchst du einen Krug Öl?“, fragte Amires und hob sich auf die Zehenspitzen, um hineinzusehen.

„Der Holzbalken steckt in zwei eisernen Haltern. Wenn man ihn entfernt, springt die Tür einen Spalt breit auf. Dabei knurren die hölzernen Angeln in den Steinmulden wie bösartige Hunde.“

„Und woher weißt du das? Und wer hat dir das Öl gegeben?“

„Frag nicht so viel. Pass lieber auf den Weg auf. Ich mach das schon.“

Sadeh verteilte je eine Handvoll Öl zwischen dem Balken und den Eisenwinkeln und wiederholte die Prozedur bei der unteren Steinmulde. An­schließend setzte sie den Krug auf den Boden, legte ihre Finger unter den Balken und versuchte, ihn hochzudrücken. Doch er rührte sich nicht. Sie versuchte es erneut und presste ein Knie gegen die massive Holztür, rutschte aber mit ihren öligen Fingern ab.

„Au“, stöhnte sie gequält auf. „Jetzt habe ich mir die Fingernägel umgeknickt.“

„Lass es mich mal versuchen“, flüsterte Amires.

„Nein. Du bist viel zu klein. Pass du auf den Weg auf, damit uns niemand bemerkt.“

Sadeh stemmte ihre Hüfte mit aller Kraft gegen das hölzerne Tor und ruckelte an dem unförmigen Riegel. Stück für Stück gab er nach.

„Er… hat… sich… bewegt, gleich… hab… ich… es… ge­schafft!“, jubilierte sie verhalten.

„Und du bist dir absolut sicher, dass dort draußen keine Wachen stehen?“

„Ja“, stöhnte sie und ruckelte weiter. „Diesen… Nebeneingang… benutzen… nur… die… Diener… und Sklaven.“

Erschöpft macht sie eine Pause.

„Ich bin jetzt schon mehrfach hier durch­gegangen und habe niemals eine andere Wache als den Türsteher gesehen.“

„Und wenn dort doch eine steht?“

„Rede keinen Unsinn, Amires. Diese Tür wird von innen verriegelt. Wer sollte von außen hier eindringen können?“

„Warte mal, scht, … still … Ich glaube, ich höre etwas.“

Erschrocken presste sich Sadeh in den Schatten und lehnte sich flach gegen die Mauer. Sie packte Amires an seiner Tunika und zog ihn dicht an ihren Körper. Nun hörte auch sie die knirschenden Schritte. Jemand eilte über die hellen Kieswege. Hatten die Aufseher ihr Fehlen bereits bemerkt? Suchten die Wachen schon nach ihnen? Unwillkürlich hielt sie den Atem an und lauschte angestrengt.

Das Knirschen klang leise, weit entfernt. Es konnte eigentlich nicht von mehreren Personen stammen. Wenige Herzschläge später waren die Geräusche verstummt. Sadeh atmete erleichtert auf. Rasch schob sie Amires von sich fort und widmete sich wieder der Tür. Entschlossen presste sie beide Hände unter den schrägstehenden Balken und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Er schwang hoch und fiel mit einem dumpfen Poltern zu Boden. Nahezu geräuschlos schwang die Tür auf.

„Schnell“, kommandierte sie, griff mit der einen Hand nach ihrem Bündel und drückte das Tor weiter auf. „Weg hier!“

Sadeh blickte kurz nach rechts und links, dann eilte sie über den gepflasterten Weg in den Schatten einer turmhohen Palme. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass ihr Bruder ihr folgte, drückte sich gegen die Rückseite des rauen Stamms und zog ihn neben sich.

Atemlos lauschten beide in die Nacht. Der Weg war menschenleer, wurde aber von unzähligen Öllampen erhellt, die in regel­mä­ßigen Abständen entlang der Palastmauer brannten.

„In welche Richtung müssen wir jetzt?“, fragte Amires und schaute zu ihr auf. „Können wir einfach den Weg da nehmen?“

„Wir müssen uns rechts halten, bis wir die Treppe zur Unterstadt erreichen. Sie liegt in der Nähe des Haupttors, durch das man in den Palast des Pharaos gelangt.“

„Dann lass uns gehen. In wenigen Stunden wird Osiris die Nachtbarke verlassen.“

„Nein, warte noch. Ich habe den Palast bisher nur am Tag verlassen. Ich weiß nicht, ob es neben den Wachen am Haupttor noch andere gibt. In der Nähe der Treppe befindet sich ebenfalls ein Nebentor. Tagsüber wird es von außen bewacht. Vielleicht stehen auch nachts Wachen davor. Lass uns lieber im Schatten der Palmen bleiben. Da ist die Gefahr, be­merkt zu werden, geringer.“

Sadeh fasste ihr Bündel fester und ergriff die Hand ihres Bruders. „Wir bleiben am besten immer eng beisammen. Dann kann uns nichts passieren.“

Sie atmete noch einmal tief ein und setzte sich in Bewegung.

Der letzte Schluck Wein schmeckte bitter.

Verärgert über sich selber schob Chajan den halbvollen Tonbecher von sich fort und stemmte seinen müden Körper hoch, in eine halbwegs stehende Position. Mit hängendem Kopf wartete er darauf, dass der Schmerz in sei­nem Herzen nachließ. Er hätte es besser wissen müssen, er hätte den Wein nicht anrühren dürfen. Auch wenn ihm der Wirt den guten, griechischen Wein angeboten hatte, der wie Honig über seine Zunge rann.

Chajan presste seine großen, schwieligen Hände fest auf die schartige Platte des massiven Holztisches. Vorsichtig schüttelte er seinen Kopf, um den Schwindel zu vertreiben.

Lass die Toten in Frieden ruhen, hatte ihm noch kurz vor seinem Aufbruch seine Mutter geraten. Und sie hatte Recht. Er sollte an seine Tochter denken – nicht an seine verstor­bene Frau! Sie war es, deren Leben er beschützen musste. Tindé hatte er schon vor zwanzig Monaten verloren. Der Schmerz kehrte unverzüglich zu ihm zurück, sobald er an sie dach­te. Kräftig stieß er sich von der Tischkante ab, richtete sich taumelnd zu seiner ganzen Größe auf und schnaubte wie ein wütender Stier. Ein schwacher Stoß an der rechten Wade und ein dumpfes Poltern brachten ihn endgültig in die Gegenwart zurück. Erstaunt sah er sich um und entdeckte den schweren Hocker, auf dem er gerade noch gesessen hatte, hinter sich auf dem Boden liegen. Im selben Augen­blick riss ihn eine wütende Stimme aus seinem stummen Brüten.

„He, Fremder, was fällt dir ein? Jetzt ist mein Wurf fehlgeschlagen!“

Chajan drehte seinen Kopf dem Sprecher zu. Ein stämmiger Mann streckte ihm anklagend seinen Zeigefinger entgegen. Im ersten Au­genblick dachte Chajan, er sähe einen Pavian mit graumeliertem, kurzem Haar, einem fleischigen Kinn und einer Haut, so rot wie des­sen Hinterteil. Doch dann wurde sein Blick klarer.

An dem großen Tisch links von ihm saßen immer noch die vier Männer, die seit Stunden um einen Haufen goldener Plättchen würfelten. Dahinter, neben der Haustür, grinsten ihn drei nubische Händler erwartungsvoll an. Sonst war der Gastraum leer. Seine Freunde lagen längst in ihren Betten. Genauso wie Éla, seine kleine Tochter. Kein Wunder, nach der langen und beschwerlichen Reise. Er sollte ihnen folgen, um Pedineith, dem zweiten Wesir, morgen früh frisch und ausgeruht gegenübertreten zu können. Schließlich ging es um Élas Leben.

Der Pavian-Mann schimpfte lautstark weiter und hatte sich bereits halb erhoben. Chajan verstand ihn nicht. Er sprach kein Ägyptisch. Er war ein Händler aus Libyen, der die Küs­tenregion um Kyrene und das nubische Hinterland belie­ferte. Gewöhnlich reichten ihm Griechisch und Dialekte seiner Muttersprache aus, um sich zu verständigen. Ägyp­tisch hatte er bisher nicht gebraucht. Der ärgerliche Tonfall und der ausgestreckte Zeigefinger des Mannes deuteten darauf hin, dass der ihn beschuldigte, etwas verbrochen zu haben.

Diese Frecheit werd ich ihm nich durchgehn lassen. Doch bevor er ein Wort erwidern konnte, hörte er bereits die beruhigende Stim­me des Wirts in seinem Rücken.

Chajan wollte sich gerade zum Wirt um­drehen, als der ihn unerwartet am Kragen seines Mantels packte und ihn vor sich her hinaus auf den Hof schob.

Der Wirt war einen ganzen Kopf kleiner als er, besaß aber den Körperbau eines Ringers. Selbst, wenn er nicht so überrascht gewesen wäre, hätte er Mühe gehabt, sich aus dessen festem Griff zu befreien. „Geht zu Bett, Herr“, brummte der Ägypter ungehalten in akzentfreiem Grie­chisch, als sie draußen angekommen waren, und schob ihn auf das zweistöckige Gebäude mit den Schlafräumen zu. „Ihr habt genug für heute.“

Aber Chajan dachte gar nicht daran, diese Schmach auf sich beruhen zu lassen. Er war es nicht gewohnt, wie ein Verbrecher abgeführt zu werden. Schwungvoll drehte er sich zu dem Wirt um. Der Schwung war so groß, dass er seitwärts taumelte. Schwankend kam er zum Stehen.

„Mit Oberst Snofru ist nicht zu spaßen“, warnte ihn der Wirt eindringlich. „Er ist der Kommandant der Palastwache und verfügt über exzellente Beziehungen. Und er kann es auf den Tod nicht leiden, wenn er beim Würfelspiel verliert.“

Als würde ihn das interessieren.

„Scherr dich fort, du Schakal. Wenn dass die ägyptsche Gasfreunschaft is, werdich nich hierbleibn!“, schnauzte er und taumelte einige Schritte auf den Mann zu. „Morgn früh reisn wir ab. Un bei meinn Ahnen schwör ich dir, dass nieee jeman‘ auss meiner Famije hier wiedder einkehrn wird.“

Der Wirt machte lediglich eine wegwerfende Handbewegung.

„Geht endlich zu Bett. Bevor Ihr noch die anderen Gäste aufweckt. Ich dachte, Ihr hättet morgen früh eine Audienz beim Wesir. Wenn Ihr berauscht dort ankommt, lässt man Euch bestimmt nicht ein!“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging durch die offenstehende Tür ins Wirtshaus zurück. Beinahe ge­räusch­los schloss er die Tür hinter sich und ließ Chajan alleine im Hof zurück.

Die Stille, die dem wütenden Wortwechsel folgte, war erdrückend. Eigentlich suchte Chajan gar keinen Streit. Im Gegenteil. Er hatte den weiten Weg auf sich genommen, um einen Arzt zu finden, der seine Tochter retten konnte. Ihre Mutter war vor zwei Jahren trotz aller Bemühungen der besten libyschen Heiler an einer unbekannten Krankheit ge­stor­ben. Und nun zeigte Éla die gleichen Symptome. Einer der Heiler hatte ihm empfohlen, nach Ägypten zu gehen. Die hiesigen Ärzte standen im Ruf, wahre Zauberer zu sein. Und genau das brauchte er: Einen Zauberer, der Éla helfen konnte.

Die Angst um sein Kind schnitt wie ein scharfer Dolch durch seinen Schädel bis in die letzte Haarspitze seines gepflegten Bartes. Ein Seufzen, das beinahe wie Weinen klang, entschlüpfte seinen Lippen. Es vertrieb die Agonie, die der Wein ausgelöst hatte. Wenn er Éla retten wollte, musste er für die morgige Audienz so gut vorbereitet sein, wie es nur ging. Ein wacher, ausgeschlafener Geist war dafür unab­dingbar. Zudem sollte er sich genau überlegen, wie er den Wesir davon überzeugen könnte, den Pharao zu bitten, sei­nen Leibarzt einen Blick auf seine Tochter werfen zu lassen. Schließlich hatte es ihn bereits ein Säckchen Gold gekostet, um überhaupt zur Audienz zugelassen zu werden.

Im Licht der silbernen Mondsichel erkannte er den steinernen Rand des Brunnens. Langsam wankte er darauf zu und setzte sich. Seine Augen wanderten hinauf zu den Sternen, von denen die Alten sagten, es seien die Seelen der Verstorbenen. Einer blinkte besonders hell. Ob das Tindés Seele war?

„Bitte lass mir unsere Tochter“, flüsterte er leise und sandte ihr die ganze Kraft seiner Liebe, die er immer noch für sie empfand. „Wenn du mich nicht erhörst“, schwor er ihr, „werde ich euch beiden folgen.“

Chajan starrte eine Zeitlang hoffnungsvoll auf den Sternenhimmel und wartete auf ein Zeichen. Ein Blinken oder einen Blitz aus Richtung des hellen Sterns hätte ihm genügt. Doch der Stern glitzerte unverändert weiter.

Laut seufzend stemmte er sich auf seine Beine. Dann eben nicht, dann muss ich selber eine Lösung finden.

Kaum, dass er stand, begann der Boden unter ihm zu schwanken. Unwillkürlich zuckte seine Hand zum Brunnen­rand, um sich zu stützen.

Vielleicht sollte ich noch etwas länger hier draußen sitzen bleiben, schoss es ihm durch den Sinn, während er seine Oberschenkel ge­gen den kalten Stein presste. Irgendwann wird der Dämon des Weins schon verschwinden. Oder ich gehe etwas spa­zieren. Das klärt die Sinne. Vielleicht sollte ich schon einmal zum Palast gehen und nach der Pforte suchen, durch die ich morgen Vormittag gehen muss. Dann komme ich schneller ans Ziel.

Er löste die Hand vom Brunnenrand und balancierte seinen Körper mit den Beinen aus. Dann machte er einen Schritt vorwärts. Lang­sam ging er weiter. Nach einigen Schritten be­merk­te er, dass sich der Schwindel legte.

Laufen hilft, stellte er befriedigt fest. Dann gehe ich jetzt zum Palast und suche die Pforte.

Chajan schwankte auf das Hoftor zu. Die breite Mondsichel tauchte seine Umgebung in einen silbernen Nebel. Als er die kleine Holztür erreichte, zog er sie auf, schlüpfte um­ständ­lich hindurch und schloss die Tür hinter sich.

Überrascht blieb er stehen. Um ihn herum war nichts als Finsternis. Mehrmals atmete er ein und aus, bis sich die Konturen von Häusern und der Boden der schmalen Gasse aus der Dunkelheit schälten.

Muss ich nun rechts oder links?

Der Wirt hatte ihm vorgestern den Weg genau beschrieben. Er hatte ihm auch erklärt, dass der beste Arzt Ägyptens, Nedjemu, der Leibarzt des Pharaos, außer der königlichen Familie niemand anderen behandeln würde.

Doch vielleicht macht er für mich eine Ausnahme, hoffte er. Mit Hilfe der Goldkörner würde er zumindest morgen seinen Fall Pedineith vortragen können. Und wenn schon Nedjemu nicht bereit wäre, Éla zu behandeln, konnte er Pedineith zumindest fragen, wer der zweitbeste Arzt in Ägypten war.

Chajan erinnerte sich wieder daran, dass er sich rechts halten musste, danach die zweite Gasse links und dann wieder rechts.

Das ist schon mal ein guter Anfang, beschloss er und marschierte los.

Wenig später erreichte er einen kleinen Platz, den das Mondlicht stärker aufhellte als die schmalen Gassen, durch die er bisher gegangen war. Ich bin doch ein fähiger Kara­wanenführer und kenne mich mit dem Sternenhimmel aus. Da sollte ich den Weg schon finden.

Chajan richtete seinen Blick nach oben. Der Palast des Pharaos lag auf einer kleinen Anhöhe, erinnerte er sich. Von der Unterstadt aus führten mehrere Treppen auf einen brei­ten, gepflasterten Weg. Und in einiger Entfernung sah er einen dunklen Hügel, dessen Gipfel hohe Palmen säumten.

Das könnte er sein.

Zuversichtlich ging er auf die Bäume zu. Bald stieg der Weg leicht an. Kurz darauf erkannte er im steilen Schatten hellgraue Stufen.

Hab mich nicht verlaufen! So schnell er konnte, schritt er auf die Treppe zu.

Die untersten Stufen führten zu einem Podest, von dem aus weitere Stufen nach oben gingen. Der Blick hinauf ließ ihn schwindeln. Vorsichtshalber streckte er seine Hand aus und stützte sich an der steinernen Wand ab. Dann erklomm er Stufe für Stufe.

Das Ende der Treppe lag noch einige Stufen entfernt, als ihn den Schrei einer Frau aufschreckte. Er vermischte sich mit dem rau­en Lachen eines Mannes. Ihre Schreie wurden schriller, als befände sie sich in Lebensgefahr. Jetzt schrie auch noch ein Kind. Das durfte er nicht ignorieren! Er war verpflichtet Alten, Frauen und Kindern zu helfen, wenn sie sich in Not befanden. Das war einer der ehernen Grundsätze seines Volkes. Also zog er sein Schwert, reckte es empor und eilte auf die Kämpfenden zu.